Walter Bradler hat sich durch die Leserbriefe aus 35 Jahren DRAHTESEL gearbeitet. Hier seine Chronik des Magazins aus Sicht unserer Leserinnen und Leser.

1984 – das fiktive Jahr George Orwells. In diesem Jahr wird Mark Zuckerberg geboren, der US- Präsident heißt Ronald Reagan, Niki Lauda wird Formel-I-Weltmeister, STS singen „Fürstenfeld“ und in Wien erscheint der erste „DRAHTESEL – Die Zeitung für aufrechte Radfahrer/innen“.

Herausgegeben von der fünf Jahre zuvor gegründeten ARGUS ist er vier Seiten stark, auf der Schreibmaschine geschrieben und mit ein paar Comics illustriert, einfärbig schwarz gedruckt auf grauem Umweltschutzpapier. Schon der erste Leserbrief gibt ein Stimmungsbild: „Liebe ARGUS, täglich fahre ich vom 14. Bezirk zur Arbeit in den 1. Bezirk. Täglich habe ich dabei mit rücksichtslosen Autofahrern, die mit zu wenig Abstand und überhöhter Geschwindigkeit herumrasen, zu tun, nicht zu reden von den Auspuffgasen! Könnt ihr die Verantwortlichen dazu bewegen, mehr für uns Radler zu tun, anstatt immer mehr Autobahnen zu bauen? Peter S., Stadtradler“. Die Antwort steht auf Seite 1: der Schleichwegeplan, die erste große Aktion!

Die Auflage stieg kontinuierlich von anfangs 3.000 auf bereits 12.000 im Jahr 1989 und bewegt sich nun im 35. Jahrgang bei etwa 20.000 Heften. In den 1990er-Jahren erschienen bis zu sechs Hefte jährlich, jetzt bekommen ihn Abonnentinnen und Abonnenten zwar nur vier Mal im Jahr nach Hause geliefert– dafür ist das Heft deutlich umfangreicher. Bezogen sich vorerst die Berichte hauptsächlich auf Wien, kamen ab den späten 1980er-Jahren immer mehr Bundesländer-Artikel dazu. Fixer Bestandteil waren lange die Cartoons von Herbert Loserl oder die Comics von Peter Friedrich. Heute finden sich im Drahtesel Illustrationen und Infografiken junger, talentierter Kunstschaffender aus dem In- und Ausland.

Ein ungewöhnliches Problem hatte ein Leser 1987, als die Zeitung noch auf grauem Umweltschutzpapier erschien: „Müsst Ihr denn unbedingt Eure tolle Zeitung auf so einem dunklen Papier drucken? Ich kann sie deswegen am Häusl – wenn das Licht ausgeht – nur schwer lesen!“ In der Tat war die Papierqualität für den vermehrten Druck von Fotos nur bedingt geeignet. Mit dem Aufkommen der chlorfreien Papierbleiche wurden die Seiten heller, dafür der Druck bunter – vorerst nur mit einer Schmuckfarbe, ab 1994 durchgehend vierfarbig. Auf einem der ersten Farbumschläge radelte 1990 eine einkaufende Jazz Gitti am Naschmarkt – daneben der etwas despektierliche Titel „Gewichtige Umsätze“.

Der erklärende Zusatz im Namen variierte im Laufe der Jahre zwischen „Zeitung/Zeitschrift/Journal“ bis zum heutigen „Das österreichische Fahrradmagazin“. 1990 wurde die stolze Bezeichnung „aufrecht“ im Titel im Zuge einer Modifizierung gestrichen.

Zank um den Namen

Eines aber blieb bis heute: der Name „DRAHTESEL“, die liebevolle, laut Duden „ugs., scherzh.“ Bezeichnung für das Fahrrad.

Allerdings erschien er der Redaktion im Oktober 1994 nicht mehr „repräsentativ“ genug: „Es ist nicht unsere Absicht, die üblichen Bike-Magazine zu kopieren … Nur – einmal davon abgesehen, daß in „Drahtesel“ das Wort „Esel“ enthalten ist – fürchten wir, daß das ernstzunehmende Alltagsverkehrsmittel RAD als „Drahtesel“ nicht wirklich ernstgenommen wird.“ Und so wurde aufgerufen: „Neuer Titel gesucht! Wir bitten um Eure Vorschläge.“ Die Leserschaft war anderer Meinung: „Ihr wollt doch nicht etwa im üblichen Zeitschrifteneintopf versinken?“ und „Dieser zugegeben ‚sperrige‘ Name ist ein Rest dieser Selbstironie, die eben nicht auf vermeintliche Marktbedürfnisse und andere Zeit’geistig’keiten Rücksicht nimmt. Daher bleibt bitte bei dem archaischen ‚Drahtesel‘ und verwurstet ihn nicht zum x-ten ‚Citycruiser‘, ‚Superhyperbikemagazin‘, ‚Monte-Glatzo-Biker‘…!“

Heilige Kuh

Überhaupt bilden die Briefe an die Redaktion neben Lob und Kritik sehr schön die Vielfalt an Themen ab, die die radelnde Leserschaft bewegen: fehlende/schlechte Infrastruktur, Aggression/Rücksichtnahme im Straßenverkehr, Fahrraddiebstahl, Rad+Bahn, Schneeräumung, Befahren von Forststraßen,…

Wie unterschiedlich Stadtverkehr wahrgenommen werden kann, belegen zwei Briefschreiber aus Wien im Frühjahr 1992: „Ich möchte hiermit meine Mitgliedschaft bei ARGUS löschen. Es ist mir nicht mehr möglich, Ihren ketzerischen Ansichten betreffend des Kfz-Verkehrs zu folgen…“ Dagegen meinte der zweite: „Manchmal scheint es mir, daß Ihr dem motorisierten Verkehr sehr konziliant gegenübersteht…Die ARGUS wird ihrem Namen also nicht gerecht, wenn sie dem Autoverkehr auch nur irgendwelche Zugeständnisse macht.“

Im selben Heft versuchte sich Günther Nenning in einem kämpferischen Artikel als Prophet: „Im Jahr 2010 wird das Radl die heilige Kuh des Massenverkehrs sein und das Auto der Krampus. Eigentlich ist es jetzt schon so.“

Der Drahtesel als heilige Kuh? Ein schönes Bild, auf das wir wohl noch etwas warten müssen – aber wenn es so weit ist, steht es bestimmt im DRAHTESEL!