Maria und Valerie sind zehn Jahre alt, ihr Gymnasium liegt neun Kilometer von ihrem Wohnort entfernt – trotzdem können sie mit dem Rad in die Schule fahren. Auf der Strecke im Speckgürtel von Wien zeigt sich, was auch für Kinder möglich ist, wenn die Infrastruktur passt.

BERICHT: Ruth Eisenreich MITARBEIT: Andrzej Felczak

Neun Kilometer, durch vier Gemeinden hindurch: Dass man so eine Distanz (fast) durchgehend auf guter, sicherer Rad-Infrastruktur zurücklegen kann, ist in Österreich selten. Die Freundinnen Maria und Valerie, beide zehn Jahre alt und Besitzerinnen eines Fahrradführerscheins, radeln zwei bis drei Mal pro Woche von ihrem Wohnort Hennersdorf im Wiener Speckgürtel bis nach Mödling, wo sie die erste Klasse eines Gymnasiums besuchen.

„Mit dem Rad geht es oft schneller als mit dem Bus, und es macht auch mehr Spaß“, sagt Valerie, als sie Ende April zwischen ihrer Mutter und ihrer besten Freundin vor dem Computer sitzt, um per Videotelefonat von ihrem Schulweg zu erzählen.

„Ich weiß, dass die beiden gut aufpassen“, erklärt ihre Mutter Elisabeth S., „die Bewegung an der frischen Luft ist gut für ihre Schulleistungen, sie bekommen eine bessere Verkehrskompetenz – und im Bus, wo niemand angeschnallt ist, kann auch was passieren.“

Ganz leicht sei ihr die Entscheidung trotzdem nicht gefallen, ihre Tochter ohne erwachsene Begleitung so weit radeln zu lassen, sagt Elisabeth S. Die gute Rad-Infrastruktur auf der Strecke sei ein wesentlicher Faktor dafür gewesen.

Kilometer 0 bis 0,8. Eines der unangenehmsten Stücke müssen die beiden Mädchen gleich am Anfang überwinden: Rund 80 Meter müssen sie die Hauptstraße von Hennersdorf entlangfahren, auf der es keinerlei Rad-Infrastruktur gibt. „Da ist schon noch ein ziemlicher Durchzug“, sagt Elisabeth S., „es wäre super, wenn da Tempo 30 wäre. Aber da fahren die Mädchen nur ein ganz kurzes Stückerl.“

„Ich arbeite in Siebenhirten und fahre immer mit dem Rad hin“, sagt Elisabeth S., „aber diesen Weg zum Beispiel würde ich Valerie nicht fahren lassen.“ Zu viel Verkehr, zu viele unangenehme Begegnungen mit Autofahrenden, zu wenig Rücksichtnahme.

Bevor Maria und Valerie im März zum ersten Mal alleine in die Schule radelten, fuhr Marias Vater die Strecke mehrmals mit ihnen ab, bis sie sie gut kannten. Ein bisschen anstrengend sei der Weg manchmal, sagt Valerie – aber Angst? Nein, Angst habe sie keine.

Kilometer 0,8 bis 2,6. Breite Feldund Güterwege führen von Hennersdorf bis zur einzigen Stelle auf der Strecke, die Elisabeth S. Sorgen macht: Die Mädchen müssen die Wiener Straße queren, eine Landesstraße, auf der um die Kreuzung herum Tempo 70 gilt. „Da ist vereinbart, dass sie nicht die Distanz zu den Autos abschätzen dürfen“, sagt die Mutter. „Sie müssen absteigen und dürfen erst weiterfahren, wenn wirklich gar nichts kommt.“ Nach Ansicht der Radlobby sollte hier eine Mittelinsel mit Rotmarkierungen errichtet werden, Verkehrsschilder sollten Autofahrende auf den kreuzenden Radweg aufmerksam machen.

Ihr Freundeskreis sehe ihre Entscheidung, Valerie zur Schule radeln zu lassen, positiv, sagt Elisabeth S. „Ich war selber ein bisschen überrascht, dass niemand entsetzt reagiert hat. Sogar meine Mutter, die eher ängstlich ist, hat es erstaunlich gelassen aufgenommen. Aber es ist eben eine angenehme Strecke, wo wenig sein kann.“

Kilometer 2,6 bis 4,4. Haben Maria und Valerie die problematische Querung überwunden, fahren sie auf einem Güterweg zwischen Feldern hindurch bis nach Biedermannsdorf. Dort gilt im ganzen Ort Tempo 40 – die Mädchen radeln zwar auf Straßen mit Autoverkehr, „aber das sind kleine Gässchen in einem Wohngebiet, und die Leute fahren wirklich langsam“, sagt Elisabeth S.

Ungefähr 35 Minuten bräuchten sie mit dem Rad für den Schulweg, erzählt Maria. „In der Früh sind es eher 40 Minuten, weil wir da noch müde sind, nach Hause geht es immer ein bisschen schneller.“ Der Bus sei zwar auf der Hinfahrt ähnlich schnell, die Fahrt nach Hause aber dauere wegen der schlechten Verbindungen eine bis eineinhalb Stunden.

Kilometer 4,4 bis 6. An der Hauptstraße von Biedermannsdorf, auf der ebenfalls Tempo 40 gilt, erlaubt eine Ampel Maria und Valerie das sichere Queren. Dann sind die beiden schon auf einem Radweg, der entlang des Mödlingbachs durch Wiener Neudorf hindurch bis nach Mödling führt. Bei der Unterführung unter der Südautobahn kurz vor Wiener Neudorf, an einer Stelle an der Mödlinger Stadtgrenze und bei der Brücke über den Mödlingbach gibt es aus Sicht der Radlobby noch Verbesserungsbedarf – zu enge Wege und Kurven, zu starke Schwenks, zu schlechte Sicht –, aber davon abgesehen ist auch dieser Abschnitt der Strecke gut zu befahren.

Auch Marias und Valeries Schule unterstützt ihre Verkehrsmittelwahl. Sie nimmt an der Aktion „Niederösterreich radelt“ teil, bei der Betriebe, Vereine und Gemeinden mit dem Rad zurückgelegte Kilometer sammeln und Fahrräder und Zubehör gewinnen können.

„Vor der Schule stehen Unmengen an Radständern, das ist ein richtiges Radmeer, sehr beeindruckend“, sagt Elisabeth S. „Wenn wir nicht früh genug da sind, bekommen wir keinen Platz mehr“, ergänzt ihre Tochter.

Von den Kindern, die in Mödling wohnen, kämen viele mit dem Rad in die Schule, sagt Maria. Dass ihre Klasse bei „Niederösterreich radelt“ mit ungefähr 850 gesammelten Kilometern unter den Top Ten ihrer Schule sei, liege aber ganz wesentlich an ihnen beiden: Um die 350 Kilometer hätten sie zu zweit schon zusammen.

Kilometer 6 bis 9. Nachdem sie den Mödlingbach gequert haben, fahren die beiden Mädchen die Parkstraße entlang, auf der Tempo 20 gilt. Auf Gehund Radwegen geht es dann weiter bis zu ihrem Gymnasium.

Elisabeth S. würde sich wünschen, dass alle Kinder ihren Schulweg so zurücklegen können wie ihre Tochter. Nicht nur aus Umweltgründen, sagt sie, auch aus gesundheitlichen Gründen – schließlich litten viele Kinder heute unter Bewegungsmangel.

In Hennersdorf werde gerade eine Umgestaltung der Hauptstraße diskutiert, erzählt Elisabeth S. noch. „Da heißt es schon wieder: ‚Machen wir es doch so, dass die Radfahrenden auf die Nebengassen ausweichen.’ Das ist keine Verkehrspolitik, die Zukunft hat. Ich verstehe eigentlich gar nicht, wie man auf die Idee kommt, im Jahr 2023 noch etwas anderes als Radwege zu bauen.“

 

 


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