Auch in Berlin werden Radfahrende gefährlich knapp überholt. Wie Andrzej Felczak berichtet, unterschreiten laut einer aktuellen Studie mehr als die Hälfte aller Überholmanöver den in Deutschland allgemein anerkannten Mindestabstand von eineinhalb Meter. 

Zu enges Überholen durch Kfz stellt für Radfahrende ein erhebliches Unfallrisiko dar und ist einer der häufigsten Gründe, warum viele Menschen sich nicht trauen, Rad zu fahren. Der Berliner „Tagesspiegel“ hat jetzt im Zuge des Projekts „Radmesser“ die bisher umfangreichste und bestfundierte Untersuchung zu Überholabständen durchgeführt.

Gemeinsam mit Fachleuten entwickelte die Tageszeitung ein Mess-System, das während einer Radfahrt mittels Ultraschall den Abstand zu geparkten Autos rechts und zu überholenden Autos links misst und speichert. Bei Überholvorgängen wird darüber hinaus ein Foto mit einem am Fahrrad montierten Smartphone gemacht. Die gefahrene Strecke wird mittels GPS aufgezeichnet; ebenso die Zeitpunkte und die genauen Orte der Ereignisse.

Die Messungen fanden zwischen 30. August und 11. November 2018 statt. Einhundert Freiwillige nahmen an dem Projekt teil. Ausgewählt wurden möglichst unterschiedliche Radfahrende: Männer und Frauen, verschiedene Altersgruppen, Wohnorte und Fahrrad-Typen, Radfahrende mit und ohne Kinder, Viel- und Wenigfahrende usw. Im Mess-Zeitraum legten die Freiwilligen insgesamt 13.300 Kilometer zurück und zeichneten 16.700 Überholmanöver von Autos, Lastern, Bussen und Rollern auf.

Mindestüberholabstand in Deutschland

Laut deutschem Verkehrsrecht muss ein Kraftfahrzeugführer beim Überholen von Radfahrenden einen Mindest-Seitenabstand von 1,5 Meter einhalten. Von den Überholvorgängen unterschritten 6.383 (oder 38 Prozent) 1,5 Meter, 2.827 (17 Prozent) unterschritten 1 Meter – bei 192 Überholmanövern (1 Prozent) ließen Kfz-Lenkende sogar weniger als einen halben Meter Abstand. Damit waren 56 Prozent aller Überholmanöver rechtswidrig.

Was die Studie außerdem zeigte: wer mehr Abstand zu parkenden Autos hält, wird rücksichtsvoller überholt! Mit 1,5 Meter Abstand zur Parkspur überholten 47 Prozent der Autos rechtskonform, bei nur 0,5 Meter Abstand hielten nur 29 Prozent der Kfz-Lenkenden den erforderlichen Überholabstand ein.

Schnelle Radfahrende werden rücksichtsvoller überholt

Interessantes Ergebnis: schnelle Radfahrende haben offenbar einen doppelten Sicherheitsbonus: wer schneller als 17 km/h fährt wird nicht nur seltener – etwa nur halb so oft – überholt, als jemand der langsamer als mit 13 km/h unterwegs ist. Zudem wird der Schnelle in 48 Prozent der Fälle mit ausreichendem Abstand überholt, der Langsame nur in 40 Prozent.

Überraschenderweise konnte zwischen verschiedenen Radfahr-Gruppen kein statistisch relevanter Unterschied beim Überholabstand festgestellt werden: Geschlecht, Alter oder Warnweste hatten keinen Einfluss. Lediglich beim Kindertransport war der Abstand um – mickrige – 8,4 Zentimeter größer.

Fazit: Es ist sehr positiv, dass eine Tageszeitung das Thema Überholabstand so konsequent behandelt. Es ist dies jedoch eine Aufgabe, die eigentlich von den Verkehrsverantwortlichen auf Landes- und Bundesebene wahrgenommen werden sollte. Wichtiger noch: aus den teilweise erschütternden Ergebnissen sollten entsprechende Handlungsvorgaben für Verkehrspolitik, Verkehrsplanung, Legislative und Exekutive abgeleitet und umgesetzt werden. Was Österreich betrifft: Es ist ein Armutszeugnis der Verkehrspolitik, dass ein gesetzlicher Mindestüberholabstand hierzulande in der StVO immer noch fehlt.