Oft gehörter Satz, wenn Lastkraftwagen Zufußgehende oder Radfahrende ums Leben bringen: Der tote Winkel sei schuld. Spätestens seit dem Jahr 2009 existiert der tote Winkel nicht mehr, zeigt eine Analyse von Roland Romano.

Roland Romano ist Sprecher der Radlobby Österreich. Im Drahtesel kommentiert er regelmäßig Verkehrspolitik und Maßnahmen für den Radverkehr.

Der 31. März 2009 ist ein wichtiges Datum für die Europäische Union. Laut„Nachrüstrichtlinie“ (2007/38/EG) müssen seit diesem Tag Lkw und Busse über 3,5 Tonnen auf eine Weise mit Spiegeln ausgestattet sein, dass eine lückenlose Rundumsicht an der Fahrerkabine gewährleistet ist. Die Problematik nicht einsehbarer Bereiche – des sogenannten „toten Winkels“ – sollte damit der Vergangenheit angehören. Ohne diese Rundumsicht werden Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen (mit wenigen Ausnahmen) in der EU nicht zugelassen.

So weit so gut. Wie aber kann es dann dennoch sein, dass Auto-Clubs und Frächter-Lobbys immer noch vom toten Winkel sprechen? Dahinter kann sich einerseits eine Schutzbehauptung zugunsten der Schwerfahrzeuglenker verbergen oder eine konstruierte Ausrede für die Zeit nach einem schweren Unfall. Im mildesten Fall hat sich die Rundumsicht-Vorschrift schlicht in bald zehn Jahren noch nicht herumgesprochen.

In den letzten zehn Jahren gab es immer wieder „Bewusstseinsbildung“ im deutschsprachigen Raum, die einen falschen oder zu großen toten Winkel kommunizierte. Teils wurden Uralt-Lkw verwendet oder sogar bestehende Spiegel abgedeckt. Damit entstand der Eindruck, Lenkende von Schwerfahrzeugen könnten den Bereich um das Fahrzeug nicht einsehen.

Was stimmt: Die besten Spiegel nützen nichts, wenn sie schlecht eingestellt oder nicht benutzt werden. Was gerne als technisches Problem dargestellt wird, ist in Wirklichkeit eines von fehlerhafter Verkehrsplanung, Fahrtechnik oder mangelnder Sorgfalt beim Lenken eines Schwerfahrzeuges. Doch auch mit Spiegeln gilt: Von schweren Fahrzeugen kann große Gefahr ausgehen, der alle Verkehrsteilnehmenden mit erhöhter Wachsamkeit und Abstand Rechnung tragen müssen.

Intelligente Maßnahmen setzen

Was aber könnte man unternehmen, um die Gefahrensituation „rechtsabbiegender Lkw trifft auf Zufußgehende oder Radfahrende“ zu entschärfen?

Die Radlobby hat seit 2016 fünf Handlungsfelder identifiziert. Neben besserer Straßeninfrastruktur, umfangreichen Kampagnen und gesetzlichen Novellen muss die Einheit „Fahrzeug und Mensch“ selbst verbessert werden:

Bei den Spiegeln sind die Fahrzeughalter dazu verpflichtet, ihre Fahrzeuge mit den vorgeschriebenen Spiegeln auszustatten und richtig einzustellen. Die Logistikunternehmen und der Autobahnbetreiber ASFINAG sind dazu aufgerufen, sogenannte Spiegeleinstellplätze anzulegen. Dort können Schwerfahrzeuglenker ihr Fahrzeug anhalten und die korrekte Einstellung der Spiegel durch Markierungen am Boden in wenigen Minuten selbst vornehmen.

Wenn sich durch Technik etwas merkbar verbessern lässt, dann am ehesten durch bessere Fahrerkabinen mit niedriger Windschutzscheiben-Unterkante. Bei diesen „Direktsicht-Lkw“ lassen sich viel größere Bereiche direkt – statt über Spiegel indirekt – einsehen. Assistenzsysteme sowie ein Notbremsassistent sollen gesetzlich vorgeschrieben werden. In besonders sensiblen Bereichen muss über eine Beifahrerpflicht nachgedacht werden. London beispielsweise hat 2015 das „Safer Lorries Scheme“ eingeführt, welches zusätzliche Sicherheitsmerkmale vorschreibt – seitdem sind besonders unsichere Schwerfahrzeuge verboten.

Selbstverständlich lässt sich auch durch entsprechende Straßeninfrastruktur die Sicherheit erhöhen: Vorgezogene Haltelinien für den Radverkehr und bessere Ampelschaltungen. Durch einige Sekunden Vorgrün für die Menschen zu Fuß oder am Rad bzw. getrennte Ampelphasen von abbiegenden Kfz und Nichtmotorisierten können Gefahrensituationen vermieden werden.

Was es braucht, ist eine Vermeidung von Gefahrensituationen und die Aufarbeitung nach schweren Unfällen zum Zweck der Vorbeugung weiterer Kollisionen. Aber bitte nicht mehr den „toten Winkel“ bemühen: Lassen wir ihn ruhen…

Weiterführende Informationen

> Nachbericht: Gipfel zum Lkw Abbiegeassistenten (27. Februar 2019)
> Verpflichtend seit 2009: Rundumsicht an Kabinen schwerer Lkw (24. Oktober 2018)
> Toter Winkel: Alte Gefahr, neue Kampagne in Wien (25. April 2016)