Wie Michael Cramer Radfahren in Europa fördern will

Der deutsche EU-Parlamentarier Michael Cramer ist einer lautesten Fürsprecher des Radfahrens in Europa. Soeben wurde der Grüne Politiker zum Vorsitzenden des Transport und Tourismus-Ausschusses gewählt. Was heißt das für Radfahrende?

INTERVIEW: Matthias Bernold

DRAHTESEL: Sie sind im Juli zum neuen Vorsitzenden des Verkehrsausschusses gewählt worden: Welche Akzente können wir von Ihnen erwarten?

Michael Cramer:
Wir können den Klimawandel nur stoppen, wenn wir die Mobilität verändern. Der Verkehr ist in der EU derzeit zu 25 Prozent für den CO2-Ausstoß verantwortlich, davon zu 72 Prozent der Straßenverkehr. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil wir in den vergangenen Jahren in Europa in allen Sektoren Minderungen des CO2-Ausstoßes erzielt haben: In der Industrie minus 32 Prozent, bei den Haushalten minus 24 Prozent und im Energiesektor um 16 Prozent. Im Verkehr hingegen haben wir im selben Zeitraum ein Plus von 28 Prozent. Das heißt: Der Verkehr frisst all das auf, was wir in anderen Sektoren mit Milliarden unserer Steuergelder erreicht haben.

Wie wollen Sie die Mobilität verändern?
Zunächst müssen wir den unfairen Wettbewerb der Verkehrsmittel beenden, der die Bahn benachteiligt. Jede Lokomotive muss auf den Strecken in der EU eine Schienen-Maut für jeden gefahrenen Kilometer bezahlen. Auf der Straße hingegen ist die Maut eine freiwillige Angelegenheit der Länder. Wenn es Mautstrecken gibt, dann meistens nur auf Autobahnen oder für Lkw ab 12 Tonnen. Außerdem wird die Maut – anders als bei der Bahn – gedeckelt. Auch der Flugverkehr ist privilegiert: Kerosinsteuerbefreiung, Mehrwertsteuerbefreiung bei Auslandsflügen: Es geht um 30 Milliarden Euro, die Europas Steuerzahlende den Airlines jedes Jahr hinten reinschieben. Die Bahnkunden müssen all das bezahlen. Solange sich an diesen Rahmenbedingungen nichts ändert, hat die Schiene keine Chance.

Diese Positionen kennt man von Ihnen. Aber wie viele Ihrer Ausschusskollegen teilen Ihre Ansichten?
Natürlich ist das Meinungsspektrum im EU-Parlament breit. Aber in einigen Punkten sind wir uns alle einig: Wir wollen einen besseren Klimaschutz, einen fairen Wettbewerb, die Internalisierung der externen Kosten und das „user pays principle“, das heißt, dass die Nutzenden und nicht die Steuerzahlenden die Kosten bezahlen müssen. Zudem waren wir uns einig, dass die umweltfreundliche Bahn und nicht die klimaschädliche Straße gefördert werden soll. Problematisch sind für mich die Großprojekte wie Stuttgart 21 oder der baltisch-adriatische Korridor.

Oder Semmeringbasistunnel und Koralmtunnel?
Genau. Solche Großprojekte sind Verrücktheiten. Der mögliche Nutzen steht in keiner Relation zu den Kosten. 95 Prozent dieser Großprojekte haben wenig mit dem Verkehr zu tun, sondern dienen der Bau- und der Bankenlobby. Es ist absurd, jahrzehntelang für Milliarden Euro einen Tunnel durch die Alpen zu bohren, nur um auf einer schwach besetzten Relation schneller von Wien an die Adria zu kommen. Würde die existierende Strecke durch die Pannonische Tiefebene ertüchtigt und elektrifiziert, wären wir in wenigen Jahren und nicht erst in Jahrzehnten schneller an der Adria. Bei Stuttgart 21 ist es ähnlich: Dort wird für zehn Milliarden Euro ein Bahnhof gebaut, der halb so leistungsfähig ist wie der bestehende und die drei Milliarden teure Neubaustrecke nach Ulm ist steiler als die bestehende „Geislinger Steige“-Neubaustrecke. Stattdessen könnte man für jeweils 100 Millionen Euro die Verbindungen von Berlin nach Breslau oder Swinemünde um jeweils zwei Stunden verkürzen.

Kommen wir zum Radfahren: Wie sehen Sie die Situation in Europa?
In den Städten spielt das Fahrrad eine ganz entscheidende Rolle für den Umweltschutz und die Verbesserung der Lebensqualität. Im urbanen Bereich sind 90 Prozent aller Autofahrten kürzer als sechs Kilometer. Das sind ideale Distanzen für Bus, Bahn, Rad und Zufußgehen. Kopenhagen zeigt seit Jahren, wie es funktionieren kann. 52 Prozent aller Fahrten zur Arbeit werden dort mit dem Fahrrad zurückgelegt. Inzwischen entdecken immer mehr Städte die Vorteile: In Berlin wurde der Radfahreranteil in zehn Jahren von 6 auf 15 Prozent verdoppelt. Viele Städte weisen einen ähnlichen Trend auf. In diese Richtung muss es weiter gehen. Eine enorme Innovationskraft geht auch von den Pedelecs aus. Die Ausrede, dass die Wege zu weit und hügeliges Gelände Radfahren unmöglich macht, greift nicht mehr. Dadurch wird das Fahrrad auch für weniger sportliche Menschen oder für Personen, die nicht schwitzen wollen, attraktiv.

Welche Möglichkeiten hat das EU-Parlament, den Radverkehr zu stärken?
Mit der Ko-Finanzierung durch den EU-Strukturfonds haben wir einen Hebel, um Projekte mit bis zu 85 Prozent zu fördern. Natürlich kann das Parlament einer Gemeinde nicht vorschreiben: macht lieber hier einen Radweg und lasst die Straße bleiben. Wir sind auf Vorschläge der Gebietskörperschaften angewiesen. Aber immer mehr Gemeinden beginnen die Vorteile des Radwegeausbaus zu sehen. Österreich macht – was das angeht – übrigens eine ganz gute Politik: Viele Radwege in landwirtschaftlichen Gegenden wurden als Güterwege eingereicht und mit EU-Geldern asphaltiert und ausgeschildert. Davon profitieren beide Seiten.

Die EU entwickelt und fördert das Fern-Radwege-Netzwerk mit derzeit vierzehn Eurovelo-Routen durch Europa: Wie ist der aktuelle Stand?
Es ist uns im EU-Parlament gelungen, die Eurovelo-Routen in die transeuropäischen Verkehrsnetze aufzunehmen. Die Grüne Fraktion im EU-Parlament hat einen Antrag eingebracht, dass künftig 1 Prozent dieser Gelder in den Ausbau der Eurovelo-Routen fließen sollen. Das Netz umfasst mehr als 70.000 Kilometer. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, die Lücken zu schließen, damit die Strecken in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren durchgängig ausgeschildert und fahrradfreundlich ausgebaut sind. Der Fahrrad-Tourismus boomt seit Jahrzehnten mit zweistelligen jährlichen Zuwachsraten. Früher wurden Rad-Reisende mit Studierenden und armen Leuten gleichgesetzt. Heute wissen wir, dass Radtouristinnen und –touristen mehr Geld ausgeben als Auto-Reisende.

Wie Fahrrad-freundlich ist Österreich im Vergleich zu anderen Ländern in Europa?
Im Vergleich zu Polen gut. Im Vergleich zu den Niederlanden, Dänemark, Belgien oder Finnland nicht so gut. Wir haben aber auch in Österreich gute Beispiele: Etwa Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in Graz. Etwas, das ich mir auch in deutschen Städten wünschen würde. In Wien hat sich ebenfalls enorm viel getan, wenn ich etwa an die Mariahilfer Straße denke. Auch die Ausschilderung und der Ausbau von Radwegen ist an manchen Orten vorbildlich: Etwa am Neusiedlersee. Die Qualität ist allerdings nicht durchgängig gut, sondern hängt vom Engagement einzelner Personen in den Städten und Regionen ab.

Zur Person
Michael Cramer ist seit dem Jahr 2004 Abgeordneter des Europäischen Parlaments für die Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz. Im Juli 2014 wurde der 65-Jährige zum Vorsitzenden im Verkehrsausschuss gewählt. Der ehemalige Musik- und Sport-Lehrer gilt als Erfinder des Eurovelo 13 Eiserner Vorhang, eines 9000 Kilometer langen Radwegs durch 20 europäische Länder.