Falter-Chefredakteur Florian Klenk im DRAHTESEL-Gastkommentar: „Die zehnspurige Autobahn in der Stadt ist ein Relikt des vergangenen Jahrtausends.“

Foto: Florian Klenk

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie fahren mit dem Auto über den Gürtel. Plötzlich müssen sie von einer Straßenseite auf die andere schwenken, dann wieder retour. Immer wieder. Sie müssen mit dem Auto dabei über große Schienenrillen fahren, in denen Ihre Autoreifen vielleicht stecken bleiben, während Ihnen von hinten ein Schienenfahrzeug nach dem Leben trachtet. Und beim Umspuren warten Sie jedesmal ein paar Minuten an einer lähmend geschalteten Ampel, während tausende stinkende Brummer an Ihnen vorbeiziehen.

Zehn Spuren für den Autoverkehr

Sie wären genervt? Sie würden explodieren! Aber keine Sorge: Derlei werden Sie im Auto am Gürtel nicht erleben. Denn als Autofahrer stehen Ihnen hier 10 Fahrspuren zur Verfügung. In Worten: zehn. Vier in jede Richtung zum Fahren, eine zum Parken. Soviele Spuren hat die Südost-Tangente.

Diese anachronistische Situation des Spurwechselns, des Schienensteckens, des Über-den-Haufen-gefahren-werdens erleben Sie nur als Radfahrer*in. Jeden Tag – am Gürtelradweg. Er stammt aus dem vorigen Jahrhundert. Er ist ein verkehrspolitischer Dauerskandal.

Man wünscht sich, dass der Bürgermeister ein einziges Mal mit einem Rad vom Hauptbahnhof zur Nussdorfer Straße fährt. Nur einmal.

Wien braucht einen Befreiungsschlag

Es ist kurios: Während in Paris, Utrecht, Amsterdam, Kopenhagen die Radfahrer*innen Highways und Mega-Garagen bekommen und die Städte leiser und lebenswerter werden, zaudert das Rote Wien, am Gürtel nur eine einzige Fahrspur abzuzwacken, um den immer mehr werdenden Radler*innen (und den „Ich bin ein Fahrrad“-Zusteller*innen) jenen Platz zuzugestehen, den sie längst verdienen.

Im Gegenteil: Erst kürzlich betonte der Bürgermeister, dass die Wiener ihre Hauptverkehrsachsen brauchen. Er meint nur Autofahrer. Sagt ihm bitte jemand, dass am Gürtel rund 100.000 Menschen leben? Meist ohne Auto.

Nein, es braucht – wie auf der Mariahilfer Straße – endlich einen radikalen Befreiungsschlag. Der Gürtel verdient auf jeder Seite einen breiten, modernen, vom Autoverkehr abgesetzten Rad-Highway und Zonen für Fußgänger. Wenn das erledigt ist, wenn der Gürtel verkehrs-ökologisiert ist, sollen die Bauarbeiter zum Ring fahren und einen Fahrstreifen zum Radweg machen. Zwischenstopp: Zweierlinie.

Das geht nicht? Doch! Man fahre nach Amsterdam, Paris, Kopenhagen und Utrecht und staune, wie es geht. Und wie sehr die Leute das schätzen.