Wie Städte ihre Mobilität verändern und warum das Ringen um lebenswertere Metropolen noch lange nicht gewonnen ist.

REPORTAGE: Matthias Bernold
ILLUSTRATIONEN: Kallen Mattsson

Rush Hour in Medellín. Auf der Avenida San Juan, einer achtspurigen Tangente, die die Stadt von Osten nach Westen durchschneidet, wippen die Autos, Busse und Lkw im Stop and Go. Zwischen den Kolonnen bahnen sich knatternd Mopeds und Kleinmotorräder ihren Weg. Es ist ein ohrenbetäubendes Brummen, Brausen, Bremsenquietschen. Eine schwefelgelbe Wolke aus Ruß und Gestank. Hier aufs Fahrrad steigen? Ein Graus. Dennoch. Auch wenn es das Auge des verwöhnten Europäers nicht auf den ersten Blick erkennt: Die kolumbianische 2,7-Millionen-Einwohner-Stadt ist einer der vielen Schauplätze der globalen Mobilitätswende. Bereits Ende der 1990er-Jahre sagte die Stadtregierung dem täglichen Verkehrskollaps den Kampf an. Schuf – als einzige Stadt Kolumbiens – eine Metro. Errichtete Freiräume, Parks, eine Seilbahn, um die Armenviertel in den steilen Außenbezirken ans öffentliche Verkehrsnetz anzubinden. Zweimal pro Woche öffnet man wichtige Straßenzüge für die „Ciclovía“, die in Lateinamerika unerhört populären Radparaden. Für diese Maßnahmen gewann Medellín immer wieder Auszeichnungen, darunter den Sustainable Transport Award 2012. Im Kampf gegen den täglichen Verkehrskollaps ist die AndenStadt allerdings längst kein Sonderfall mehr. Auf der ganzen Welt stehen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister vor den selben Fragen. Und gelangen – unabhängig von ihrer politischen Couleur – zu den gleichen Antworten. Wie kriegen wir Abgase, Lärm, Unfälle und exorbitante Kosten für die Erhaltung der Straßeninfrastruktur in den Griff? Wie setzen wir der Vergeudung fossiler Energien ein Ende? Wie wandeln wir Räume für Autos in Lebensräume für Menschen um? „Am Anfang waren es ein paar Pioniere, die nach Kopenhagen und Amsterdam geschaut haben: Enrique Peñalosa in Bogota, Janette Sadik-Khan in New York und Boris Johnson in London“, analysiert Robert Pressl von der steirischen Forschungsgemeinschaft Mobilität: „Inzwischen setzt sich das neue Denken in immer mehr Metropolen durch.“

Verteuerung von Parkplätzen

Rückbau und Verteuerung von Parkplätzen, Förderung des Öffentlichen Verkehrs, Neuverteilung des öffentlichen Raumes, Förderung alternativer Mobilität durch den Bau von Fahrrad- und Fußgänger-Infrastruktur. Das sind die Zutaten moderner Verkehrspolitik. Noch bis 2007, als ich zum Studieren nach New York City kam, war Radfahren dort ein Wagnis. Radwege gab es keine, und wer auf dem Fahrrad überleben wollte, musste sich selbstbewusst den Raum nehmen: Immer in der Mitte der Fahrspur bleiben, viel Abstand zu den Parkenden, stets auf der Hut: Das verringerte das Risiko, von einem Yellow Cab geschnitten oder von einer achtlos geöffneten Autotür „gedoort“ zu werden. Als Janette SadikKhan als Verkehrskommissarin unter Bürgermeister Michael Bloomberg in die City Hall einzog, begann sich das Straßenbild plötzlich zu ändern. Während ihrer Amtszeit (2007 bis 2013) boxte sie ein ehrgeiziges Verkehrsberuhigungs- und Fahrradkonzept durch: Inzwischen gilt flächendeckend ein Tempolimit von 40 km/h. Die fünf Boroughs (Bezirke) sind von einem 643 Kilometer langen Radwege-Netz überzogen. Es gibt ein effizientes Leihradsystem. Und manche Ecken der Stadt – Times Square oder die stillgelegte Hochbahn „High Line“– verwandelten sich in städtische Erholungsflächen.

Ciklovías in ganz Lateinamerika

„Bis zur verhängnisvollen Liebesaffäre mit dem Auto waren die Straßen Manhattans ein Wohnzimmer“, sagt Sadik-Khan in ihrer Keynote beim Weltfahrradforum in Medellín Ende Februar: „Heute hat diese Liebesaffäre jeden Reiz verloren.“ Straßen in Wohnzimmer rückzubauen, diesem Ziel eifern heute immer mehr Städte nach. In den USA buhlen nicht mehr bloß die alternativeren Städte wie Portland und das kühle Minneapolis um das Image der radfreundlichsten US-Metropole. In Boston, Seattle und Austin, Texas, blecken Radwege in grüner Knallfarbe. Sogar in Los Angeles, dem gelobten Land des Automobils, wo man in den letzten hundert Jahren das öffentliche Verkehrsnetz bewusst zerstörte, überlegt man, alte Fahrrad-Highways – wie sie bis Anfang des 20. Jahrhunderts dort bestanden – wieder instand zu setzen. Etwas weiter südlich boomt auch in Mexico City die Fahrrad-Szene. Wie in Medellín steht der Sonntag im Zeichen der Ciclovía: Vom noblen Stadtteil Polanco ausgehend sind 60 Kilometer Fahrbahn für Radfahrende, Skater und Laufende geöffnet. In den innerstädtischen Stadtteilen La Condesa und Roma ist es ebenso schick, mit dem Single Speed vorzufahren wie in den Hipster-Zentren Williamsburg, Berlin-Kreuzberg oder Wien-Neubau. Die kolumbianische Hauptstadt Bogotá war mit ihrem Bus Rapid Transit (BRT), einem Busnetz auf eigenen Fahrstreifen Vorreiter. Inzwischen widmet die Stadt alle paar Monate eine neue Straße in eine Fußgänger- oder Begegnungszone um. Selbst das brasilianische Sao Paulo, wo so viele Radfahrende im Autoverkehr starben, dass die eingeschworene Fahrrad-Community kaum nachkam, Ghost Bikes an den Kreuzungen anzubringen, ist vom Wandel erfasst. „Bei uns kippt die Politik gerade“, freut sich die Fahrrad-Aktivistin Aline Cavalcante: „Sao Paolo hat seit kurzem Radwege. Alles ändert sich.“ In Europa marschieren Städte wie München, Zürich, Rom, Barcelona oder Paris in die selbe Richtung und wollen die Zahl der Radfahrenden und Zufußgehenden erhöhen. Holland und Dänemark sind schon wieder ein paar Schritte voraus und errichten Schnell-Radwege für Pendelnde aus den Außenbezirken. Aus London, wegen seiner engen, stark befahrenen Straßen ein für Radfahrende brandgefährliches Pflaster, hört man von Plänen für einen Fahrrad-Highway auf Stelzen.

Freuen wir uns nicht zu früh

Lang ließe sich diese Liste fortsetzen: Müsste ergänzt werden um das Verkehrsberuhigungskonzept in Ugandas Hauptstadt Kampala. Um den hundert Kilometer langen Radweg in Perth, West Australien, parallel zur Stadtautobahn. Oder um den Abriss eines Highways in der koreanischen Hauptstadt Seoul, wo stattdessen ein Park geschaffen wurde. Klingt eigentlich alles wunderbar. Sind wir also auf dem Weg ins autofreie Paradies? Nicht so schnell. Der Siegeszug des Fahrrades ist leider begleitet vom Vormarsch einer anderen Technologie: Der des Automobils. Der Gebrauch motorisierter Kfz ist bisher nur in einigen europäischen, US-amerikanischen und australischen Städten rückläufig. In den Metropolen der Schwellenländer hingegen explodieren die Verkaufszahlen für Automobile. Im Jahr 2013 wurden nach Angaben des Weltautomobilverbandes OICA weltweit 87,3 Millionen Fahrzeuge hergestellt, im Jahr 2010 waren es noch 77,6 Millionen. Im Jahr 2011 waren nach Angaben der Ward’s Automotive Group weltweit 1,069 Milliarden Autos zugelassen: Ein Anstieg um 38,3 Prozent in zehn Jahren. Laut Asian Development Bank sind wir auch an dem Punkt, an dem zum ersten Mal mehr Wege mit motorisierten Verkehrsmitteln gemacht werden als mit Körperkraft. Während in Europa und manchen Orten der USA das Auto seinen Reiz als Statussymbol einbüßt, lockt es in den Schwellenländern die aufstrebende Mittelklasse. Oft kommt dem Automobil auch die Phantasielosigkeit der Menschen zugute. „Viele Leute haben Schwierigkeiten, sich eine Zukunft vorzustellen, die anders ausschaut“, erklärt Verkehrsplaner Harald Frey von der Wiener TU: „Sie können sich einfach keine andere Straßen-Nutzung vorstellen als die, dass zwei Drittel von fahrenden oder parkenden Pkw blockiert werden.“ Durch neue Rahmenbedingungen – ist er überzeugt – ließe sich das menschliche Verhalten allerdings ändern: „Vor 30 Jahren wurden in Wien mehr als 40 Prozent aller Wege mit dem Auto zurückgelegt. Heute sind es nur noch 27 Prozent.“ Bis zu einer weltweiten Trendwende ist es jedenfalls ein weiter, anstrengender Weg. Die Entwicklung in Metropolen der Welt lässt allerdings hoffen, dass dieser Weg beschritten wird. Auch stimmt es optimistisch, dass Fahrrad-Aktivistinnen heute nicht mehr alleine für eine menschenfreundliche Mobilitätspolitik antreten, sondern immer häufiger Schulter an Schulter mit Stadtregierungen. „Einstweilen schwimmen wir noch gegen den Strom“, erklärt Florian Lorenz, Stadtplaner in Wien und einer der Organisatoren des Weltfahrradforums: „Die Trendwende in Lateinamerika lässt hoffen, dass die Megacity der Zukunft nicht mehr dem Auto gewidmet sein wird, sondern dem Menschen und der urbanen Lebensqualität.“