Oft genügt ein kleiner Schubs
Radfahren zu lernen ist ein prägendes Erlebnis – für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Der DRAHTESEL beobachtete Kinder beim spielerischen Lernen – und fragte ihre Fahrlehrerinnen und -lehrer, worauf es da ankommt
TEXT: Philipp Schober
FOTOS: David Moser
COVER-ILLUSTRATION: Gus Scott
Ein früher Nachmittag in Kaisermühlen. Die Frühlingssonne strahlt. Die Neue Donau glitzert. Und weil Wochenende ist, wurlt es gewaltig am Ende der Rudolf-Nurejew-Promenade. Dort, einen Kilometer flussabwärts der Reichsbrücke, gleich neben dem „Kaisermühlensteg“ liegt Wiens erster „Radmotorikpark“: ein frei zugänglicher Radspielplatz, auf dem auch Radkurse stattfinden.
Es ist ein Wimmelbild – mit und auf Fahrrädern. Dass es nicht minütlich „scheppert“, grenzt – für Außenstehende – an ein Wunder. Wer genauer schaut, erkennt aber: Der Verkehr funktioniert hier wie ein Fischschwarm. Intuitiv und ohne ausgesprochenes Regelwerk.
Ins Rollen laufen
Was hier ebenfalls zu sehen ist: Kinder laufen ins Rollen. Mit einem Laufrad können sie meist schon mit zwei oder drei Jahren umgehen. Dabei entwickeln sie nicht nur koordinative Fähigkeiten, sondern lernen sehr rasch, das Gleichgewicht zu halten.

Radfahrlehrerin Gabriele Kaltenbaek unterrichtet – unter anderem – im Bikemotorikpark in Kaisermühlen.
Für den Umstieg aufs erste echte Kinderrad ist das ein entscheidender Vorteil. Aber auch Roller trainieren früh das Balancegefühl. Im Gegensatz zu Drei- oder Stützrädern, erklärt Gabriele Kaltenbaek. Die Sozialpädagogin ist hier, im Radmotorikpark, regelmäßig anzutreffen. Nicht nur als Mutter, die ihren Kindern beim Radfahrenüben zuschaut, sondern auch als – dafür ausgebildete und staatlich zertifizierte – Radfahrlehrerin.
Kaltenbaek unterrichtet bei der Wiener Radfahrschule „FahrSicherRad“. Meist schult sie Kinder – aber nicht nur. Denn Fahrradkurse gibt es auch für Erwachsene. Kaltenbaeks zweiter Fokus liegt auf Frauen mit Migrationshintergrund. Cover Story Die härteste Nuss ist da für alle Altersgruppen gleich: das Losfahren. Kinder brauchen dafür aber meist nur einen kurzen „Impuls“, erklärt die Radtrainerin. Eltern, die ihren Kindern statt Beinen Räder machen wollen, übertreiben dabei nämlich oft: „Statt Kinder zu schieben und zu führen, sollte man nur leicht anschubsen.“ Das genügt. Das Rad rollt sanft an – und das ermutigt Kinder, selbst in die Pedale zu treten. Bergab („natürlich sanft und mit sicherem Auslauf!“, so Kaltenbaek) fällt der Start noch leichter.
Nichts erzwingen
Erzwingen lässt sich aber nichts: Wenn Losradeln nicht gleich klappt, hilft nur Geduld. „Die Begeisterung kommt. Immer. Bestimmt.“ tröstet die Radlehrerin eher ehrgeizige Eltern als ihre Kinder. Denn sie weiß: Der Moment, in dem jemand das erste Mal fährt, ist erhebend und beflügelnd. „Das ist eine Ermächtigung, ein prägender Augenblick.“ Und den, weiß die Bike-Pädagogin, vergisst man nie: „Die ersten Tritte in die Pedale, die ersten Meter freies Rollen, das fühlt sich toll an. Die Kinder sind beflügelt, sobald sie den Dreh raus haben.“ Mit Druck springt der Funke aber später. Oder, schlimmstenfalls, gar nicht.
Was jetzt noch schief gehen kann? „Nach unten schauen. Oder Bremsen mit den Füßen.“ Kinder tendieren dazu, auf den Boden und ihre Füße zu schauen. Das erschwert es aber, die Balance zu halten. Was tun? Vor dem Kind herlaufen oder -fahren. „Schau zu mir!“-Rufen funktioniert, weil der anvisierte Punkt dann weiter vorne liegt.
Gegen Bremsen mit den Füßen hilft nur eines: Die richtige Hardware. Also kindgerechte Handbremsen, die auch von kleinen Händen mit kurzen Fingern erreichbar und mit wenig Druckkraft bedienbar sind. Rücktrittbremsen, erklärt Jörg Ofner von der Grazer Radfahrschule „JO! Mobilitätsbildung“, sind nicht mehr zeitgemäß: Der fehlende Freilauf ist beim Anfahren hinderlich. Und für schnelles Bremsen braucht es neben der richtigen Pedalstellung auch viel Kraft.
Hinfallen gehört dazu
Bevor es in den Verkehr gehen kann, ist Üben an Orten ohne Kfz-Verkehr essentiell. Kinder schulen ihre Geschicklichkeit – das schafft Selbstvertrauen. Dann kommt die Routine: Diese „spielerischen Raderfahrungen“, erklären Kaltenbaek und Ofner unisono, sammelt man daher auf ruhigen, hindernisfreien und flachen Plätzen.
Stürze gehören dazu. Sie sind (hier) meist harm- und folgenlos, solange sie vom „Spielfeldrand“ aus nicht dramatisiert werden: Weil auf dem Radspielplatz in Kaisermühlen (nebenbei: Wien hat noch einen in der Seestadt Aspern, in Graz entstehen demnächst zwei) die anderen Kinder fröhlich radeln, sind derlei „Hoppalas“ meist binnen Sekunden vergessen.
Erfolgserlebnisse motivieren, weiß Radfahrlehrerin Kaltenbaek. Nach den Basics kommen dann „Skills“: „Spezialaufgaben machen den Kindern Spaß und verbessern ihre Fahrradbeherrschung.“ Also geht es über kleine Hindernisse. Oder man winkt ihnen – und sie sollen während der Fahrt zurück winken: die Vorbereitung auf sicheres Handzeichengeben.
Bremse, Spur und Ernst des Lebens
Das Bremsen muss auch sitzen. Man übt es mit „Zielbremsungen“ genau an einer Linie. Und Spurhalten wird spielerisch geübt: Das Nachfahren verschlungener Kreidelinien-Parcours würde auch vielen Eltern Spaß machen.
Dann kommt der große Moment: Die erste Ausfahrt hinaus auf die „echte Straße“. Das Fahren im Verkehrsraum: Jetzt wird Erlerntes angewandt.
Auf Straßen und Radwegen sollten Erwachsene Kinder nach Möglichkeit (und kindlicher Ortskenntnis) vorausfahren lassen „oder zur Straßenmitte hin versetzt fahren“, rät Jörg Ofner.
Die Straßenverkehrsordnung erlaubt das Nebeneinanderfahren von Erwachsenen und Kindern unter 12 Jahren (ausgenommen auf Schienenstraßen) ausdrücklich. Ofner: „Man hat das Kind im Blick und kann Hinweise geben: ‚Fahr weiter, die Autofahrerin in der Einfahrt hat uns gesehen!‘“
Vom Spiel- zum Fahrzeug
Das Fahrrad ist meist das erste eigene Fahrzeug. Es prägt das Mobilitätsverhalten: Kinder, die Radfahren als freudvoll und effizient kennenlernen, fahren auch als Erwachsene, weiß Ofner. Und wird das Fahrrad im Familienalltag verwendet, ist es auch später Mobilitäts-Selbstverständlichkeit.
„Selbstverständlich“ ist ein Schlüsselvokabel: Kinder lernen am leichtesten ohne Zeigefinger, spielerisch und gemeinsam. Radfahrkurse in der Volksschule haben sich da mittlerweile als ideal erwiesen. Auch, weil so auch Kinder fahren lernen, die – aus welchen Gründen auch immer – bis dahin nie „Radkontakt“ hatten.
Mit Spielen und Übungen wird das Fahrkönnen gefestigt. Im Parcours werden Verkehrsregeln, Verkehrszeichen und sicheres Verhalten im „Verkehrsraum“ geschult.
Klingt gut – und funktioniert auch. Respektive: funktionierte. Denn die in der letzten Legislaturperiode vom Klimaschutzministerium unter dem Signet „klimaaktiv mobil“-Radfahrkurse ins Leben gerufenen, für Schulen und Eltern kostenlosen Schul-Radausbilddungen liegen vielerorts auf Eis.
Aufgrund derzeit ausstehender Bundes-Budgetbeschlüsse heißt es für über 60.000 Kinder in diesem Schuljahr „bitte warten“. Bestenfalls.
Radlobby für Kurs-Wiederaufnahme
Die Radlobby fordert daher die sofortige Wiederaufnahme der Kurse sowie eine dauerhafte Finanzierungsgarantie durch den Bund. Sowie das verbindliche Anbieten des Ablegens der „Freiwilligen Radfahrprüng“ – österreichweit.
Derzeit wird dies regional nämlich unterschiedlich gehandhabt. Längst nicht alle Schulen bieten die Möglichkeit an – obwohl es der ministerielle „Aktionsplan Radfahren für Kinder“ ausdrücklich vorsieht.
Wo, wie oft und mit welchen Erfolgsquoten diese offizielle Radfahrermächtigung an Schulen angeboten und errungen wird, wird nicht evaluiert, beklagt Jörg Ofner. Unklar sei auch, wie es nach der Prüfung in der vierten Schulstufe weiter geht: „Hier endet der Aufbau der Radfahrkompetenz für Kinder. Tatsächlich sollte es weiter gehen.“
Als Erwachsene beginnen
Radfahren lernen hat kein Alter. Während Kinder unbefangen losstrampeln, kämpfen Erwachsene oft mit Zweifeln und Vorbehalten. Doch wenn sich die Füße das erste Mal lösen, das Rad wie von alleine rollt – dann strahlen alle: Ein Kindheitstraum wird wahr.
Wie viele Erwachsene in Österreich nicht Rad fahren können, weiß niemand. Unumstritten ist, dass die Hemmschwelle mit zunehmendem Alter höher wird.
Gründe für den späten Start gibt es viele. Nur sehr selten lag es an körperlichen Problemen. Meist passten schlicht und einfach der Ort, die wirtschaftlichen Verhältnisse oder die Zeit nicht. Frauen mit Migrationshintergrund versperren darüberhinaus oft kulturelle, familiäre oder religiöse Dogmen den Weg in den Sattel, weiß Kaltenbaek: Sie hält auch Kurse für diese Zielgruppe ab.
Doch geschlechts- und altersunabhängig, betont die Wienerin, gelte immer: „Gerade am Anfang muss Radfahren freudvoll erlebt werden: Negative Erfahrungen verstärken Ängste.“
Und egal ob Mann oder Frau, Kind oder älterer Mensch gelte noch etwas: Zum Einstieg eignen sich Räder mit tiefem Durchstieg am besten. Moderne Falträder etwa. Die Möglichkeit, den Sattel tief zu stellen und die Pedale wegzuklappen, machen sie zu idealen Übungs-Laufrädern für Erwachsene.
Sicher im Verkehr
Aber auch für viele Erwachsene, die eigentlich Rad fahren können, sind Wege im Stadtverkehr oft eine Überwindung: Kfz-Verkehr, schlechte oder fehlende Radinfrastruktur oder die Angst vor unübersichtlichen und komplexen Verkehrssituationen halten viele davon ab, aufs Rad zu steigen.
Dass viele Radfahrschulen längstdarauf abgestimmte Einzel- oder Gruppentrainings anbieten, muss sich noch herumsprechen, bedauert Kaltenbaek. Oft brauche es da nicht viel, um aus Angst Selbstvertrauen zu machen: ein technischer Fahrtipp. Ein besser justierter Sattel. Eine schlaue Route. „Es ist wie bei den Kindern: Oft genügt ein sanfter Schubs.“
Starthilfe
Wann?
Den richtigen Zeitpunkt bestimmt jedes Kind selbst.
Wo?
In einer sicheren Umgebung. Ideal: ein Radspielplatz. Auf alle Fälle aber unter Aufsicht auf Plätzen ohne Kfz-Verkehr.
Womit?
Das Laufrad lehrt Balance- und Fahrgefühl. Stützräder vermitteln falsches Sicherheitsgefühl.
Wie groß?
Rahmen und Sattelhöhe müssen sicheres Anhalten und Absteigen ermöglichen. Das Rad wächst eventuell mit dem Kind mit, aber das Kind sicher nicht ins Rad.
Was tun?
Loslassen! Ein sanfter Schubs wirkt Wunder. Ein kräftiger Stoß aber macht Angst.
Roll- und Radräume
Im Spielraum – beispielsweise am Radspielplatz – lernen Kinder rollen, balancieren und grundlegene Rad-Fertigkeiten.
Im Simulationsraum – etwa einem Verkehrsgarten – kommen Verkehrsregeln und -zeichen dazu. Nach diesen Schonräumen wird es ernst: im Verkehrs- oder Realraum nämlich. Dass man dort mit Kindern zunächst in ruhigen, verkehrsarmen Gassen und auf überschaubaren Kreuzungen übt, sollte nicht eigens erwähnt werden müssen.
Radfahren lernen: Wo & von wem?
In diesen Radfahrschulen werden Kurse ausschließlich von „klimaaktiv mobil“-zertifizierten Lehrenden abgehalten.
FahrSicherRad – Die vielfältige Radfahrschule
Pro Pedal – Die Tiroler Radfahrschule
Schulterblick – Die Radfahrschule
Die Produktion der Fotostrecke zu diesem Artikel wurde von woom bikes unterstützt und ermöglicht.