Ein richtungsweisendes Urteil spricht dem Wiener Radfahrer Tilman Wetter das Recht auf einen Seitenabstand von bis zu 1,8 Metern zur Parkspur zu. Wir beleuchten Vorgeschichte, Rechtssituation und mögliche Folgen.

BERICHT: Alec Hager

Wien in den Abendstunden des 11. September 2015. Tilman Wetter und ein Kollege befinden sich auf dem Heimweg. Einer von ihnen wird ein Jahr später mit Unterstützung des Radlobby-Vertrauensanwalts einen bahnbrechenden Urteilsspruch vor dem Landesverwaltungsgericht Wien* erreicht haben. Wetter erinnert sich: „Als wir bergab in die Schulgasse einbiegen, bemerke ich ein parkendes Polizeifahrzeug. Bald schon werde ich von dem Polizeiwagen recht knapp überholt. Die Beamtin auf dem Beifahrersitz weist mich an, rechts zu fahren. Ich entgegne ‚Türöffnungszone‘, woraufhin ich erneut darauf hingewiesen werde, weiter rechts zu fahren.“

Tilman kennt sich in der Straßenverkehrsordnung (StVO) ganz gut aus. Er weiß, dass er als Radfahrer seinen Seitenabstand so zu wählen hat, dass er ohne eigene Gefährdung und ohne Fahrzeuge zu beschädigen vorankommen kann. Auch die Radlobby empfiehlt mindestens 1,2 Meter Abstand zu parkenden Kfz zu halten, um nicht Opfer von „Dooring“, also einer unachtsam geöffneten Autotür, zu werden.

Als Tilman das den Beamten erklärt, die ihn mittlerweile angehalten haben, erntet er jedoch Belehrungen im besten Wienerisch und eine Anzeige wegen Missachtung des Rechtsfahrgebots laut Paragraf 7 (1) StVO, weil er nicht so weit rechts gefahren sei „wie dies unter Bedachtnahme auf die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs … zumutbar wäre, da der Angezeigte in der Mitte der Fahrbahn fuhr“.

Flüssigkeit oder Sicherheit?

Es lag nun an den Gerichten, diese Frage zu klären. Was wiegt mehr: die Sicherheit des Radfahrenden, der sich nicht selbst gefährden soll? Oder die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs? Und wo verläuft die Fahrlinie, die bei Tempo 30 bergab genug Abstand zur Parkspur bietet, ohne Risiko für Leib und Leben?

Tilman Wetter zeichnet die ideale Fahrlinie auf den Asphalt. Foto: Peter Provaznik

Tilman Wetter zeichnet die ideale Fahrlinie auf den Asphalt. Foto: Peter Provaznik

Tilman Wetter – unterstützt von der Radlobby und deren Vertrauensanwalt Johannes Pepelnik – ergreift gegen die Strafverfügung Rechtsmittel.

Am 14. September 2016 gelangt das Landesverwaltungsgericht Wien zu dieser Auffassung: „Ein Seitenabstand von 1,2 bis 1,8 Metern ist bei 30 km/h eine vertretbare Entfernung, will sich der Radfahrer nicht der Gefahr aussetzen, durch eine geöffnete Fahrzeugtüre verletzt zu werden.“

Als Mindestabstand zu den parkenden Autos zog das Gericht die Faustregel „ein Meter plus die halbe Lenkerbreite“
heran. Im Falle des betroffenen Radfahrers wurde daher bei einer Lenkerbreite von 80 Zentimetern eine Fahrlinie in einer Entfernung von 1,4 Metern zu den Parkenden errechnet. Im Fall von am Straßenrand geparkten Fahrzeugen, einem breiteren Lenker und einer höheren gefahrenen Geschwindigkeit ist es also zulässig, einen großen Seitenabstand zu wählen. Ob dadurch andere Verkehrsteilnehmende verlangsamt werden, ist nicht so ausschlaggebend wie die eigene Sicherheit, so die Erkenntnis des Gerichts.

Auswirkungen des Urteils

Daraus lassen sich mehrere Folgerungen ableiten, die sowohl das Verhalten von Radfahrenden und Autolenkenden betreffen als auch die Rechtsordnung bzw. die Planung von Fahrrad-Infrastruktur. Zu schmale Radspuren oder Mehrzweckstreifen können die Sicherheit reduzieren, indem sie Radfahrende in den Dooring-Bereich zwingen.

“Die Benutzungspflicht für Mehrzweckstreifen muss fallen”, findet auch Tilman Wetter: “Diese Streifen sollten Radfahrenden dazu dienen, bei zähem Verkehr und gegebener Vorsicht auch an bewegten Kolonnen vorbeizufahren, ansonsten sollten Radfahrende auch außerhalb dieser Streifen fahren dürfen.”