Unser Blick auf das Verkehrsgeschehen ist von schlampigen Formulierungen und dem Framing des Auto-Zeitalters geprägt. Wie jede*r von uns durch präzise Sprache etwas verändern kann.

Essay: Ines Ingerle, Illustration: Michael Mcdonnell.

Radfahrerinnen stürzen in abbiegende LKWs, prallen gegen Autos, krachen in deren Türen, ziehen sich dabei schwere Verletzungen zu. Kinder laufen lieber gegen Autos, krachen aber auch mal in Busse, Fußgänger prallen mit dem Kopf gegen Windschutzscheiben.

Menschen, die ein Auto oder einen Lkw lenken, sind auf wundersame Weise bei solchen tragischen Ereignissen kaum je involviert. Entweder handeln ihre Fahrzeuge (oder Teile davon) eigenmächtig, ganz ohne Zutun der lenkenden Person: Da wird eine Frau vom Heck eines Autos erfasst, und eine Autotür wirft einen Mann vom Rad. Was würden die Autobesitzer*innen nur sagen, wenn sie das wüssten?

Oder aber die handelnden Personen sind die Radfahrer*innen, die Fußgänger* innen und die Kinder, die offenbar nichts Besseres mit ihrer Freizeit zu tun haben, als Autos anzurempeln oder auf Motorhauben zu klettern, um ihren Kopf in eine Windschutzscheibe rammen zu können. Hin und wieder verletzt sich bei diesen gefährlichen Hobbys leider jemand oder stirbt gar.

Sprache formt unsere Realität. Sie entscheidet, welche Bilder bei der Beschreibung einer Situation in unseren Köpfen entstehen und wie wir diese Situation folglich bewerten und einordnen. „Sprache spielt eine wesentliche Rolle für unser Urteil darüber, wo die Schuld liegt und was für Maßnahmen helfen könnten“ erklärte Dirk Schneidemesser, Sozialwissenschaftler am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung Potsdam und Vorstandsmitglied der Initiative Changing Cities, in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung taz.

Naturphänomen Autofahrer

Im Bereich Mobilität und Verkehr begegnen wir häufig Formulierungen, die ein bestimmtes Narrativ vermitteln: Wer mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs ist, lebt gefährlich und ist tendenziell selbst schuld, wenn ihm oder ihr etwas zustößt. Opfern wird direkt oder indirekt die Schuld am Geschehenen zugewiesen („Victim Blaming“), Fehler und Leichtfertigkeiten von KfZ-Lenkenden hingegen werden verharmlost. Probleme in der Verkehrsinfrastruktur, die Unfälle begünstigen – , schmale Radstreifen, unübersichtliche Kreuzungen, fehlende Radinfrastruktur – werden überhaupt verschwiegen.

Immer wieder suggeriert schlampige Sprache, Autos würden von selbst fahren und Zusammenstöße wären folglich nicht von ihren Lenker*innen mitverursacht. „Oft werden Autos und Autofahrende als Naturphänomen dargestellt und Fußgänger oder Radfahrende als Ausnahmen, deren Berechtigung subtil infrage gestellt wird“, sagt Dirk Schneidemesser in der taz. „Wir haben uns so daran gewöhnt, dass die Straße für den Autoverkehr da ist, dass wir denken: Da war ein Fußgänger, was hatte der da überhaupt zu suchen?“

Wir denken nicht rein rational

Hinter solchen Formulierungen steckt nicht unbedingt böse Absicht. Ist eine der am Unfall beteiligten Personen tot oder so schwer verletzt, dass sie nicht befragt werden kann, steht den Polizist*innen, die möglichst rasch ihren Unfallbericht schreiben müssen, nur die Perspektive der anderen Seite – oft der Person im Auto – als Grundlage für ihren Bericht zur Verfügung. Vielen Polizist*innen dürfte zudem die Autofahrer*innen-Perspektive vertrauter sein als jene von Radfahrenden, oft fehlt es bei ihnen und in den Polizei-Pressestellen schlicht an Sensibilität für die Macht der Sprache.

Manch*e Journalist*in wiederum übernimmt im Zeitdruck gerade bei scheinbar unpolitischen Meldungen wie denen über Verkehrsunfälle Informationen und Formulierungen der Polizei, ohne sie kritisch zu hinterfragen.

Natürlich wissen wir alle, dass Autos nicht selbständig handeln. Aber wir Menschen sind keine rein rational denkenden Wesen. Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman hat schon in den 80er-Jahren gemeinsam mit seinem Kollegen Amos Tversky gezeigt, dass die Formulierung eines Sachverhalts großen Einfluss darauf hat, wie wir ihn bewerten.

In einem berühmten Experiment etwa sollten die Teilnehmenden sich eine neue Krankheit vorstellen, die ohne Maßnahmen 600 Menschen töten werde, und sich zwischen zwei Programmen zur Bekämpfung der Krankheit entscheiden. Wurde ihnen erklärt, mit Programm A würden „200 Menschen gerettet“, stimmten 72 Prozent dafür. Hieß es hingegen, mit Programm A würden „400 Menschen sterben“, waren es nur 22 Prozent. Dabei überleben in beiden Versionen gleich viele der 600 Erkrankten.

Nicht nur auf unsere Entscheidungen hat die Sprache großen Einfluss. Neue Fakten und Argumente prallen an unserem Gehirn ab, wenn sie nicht gut kommuniziert werden. Damit wir sie wirklich aufnehmen können, müssen sie in Werte verpackt werden, die uns wichtig sind.

Hier kommt das sogenannte Framing ins Spiel: Durch die Einbettung in einen bestimmten sprachlichen Assoziations-Rahmen (Frame) werden Bilder, Vorstellungen und Geschichten erschaffen. Mit welchem Framing eine Aussage daherkommt, bestimmt, in welchem Bedeutungsfeld wir uns bewegen und womit wir folglich das Kommunizierte assoziieren.

Frames können unabsichtlich kommuniziert werden (wenn jemand etwa, ohne groß nachzudenken, davon spricht, dass ein Auto jemanden angefahren hat), sie können aber auch bewusst gesetzt und genutzt werden. Die Automobil-Industrie zum Beispiel gibt seit Jahrzehnten viel Geld für Werbung aus, um ihre Frames und Narrative in der Gesellschaft und in unseren Gehirnen zu verankern: Das Auto bringt uns Freiheit, Unabhängigkeit, Individualität, Anerkennung, Fortschritt. Diese Strategie ist zwar durchschaubar, aber sie wirkt trotzdem. Die eher kleinen Lobbys, die sich für aktive Mobilitätsformen wie das Radfahren oder das Zufußgehen einsetzen, kommen dagegen nur schwer an.

Ungeschützt, aber nicht schwach

Die gute Nachricht: Sprache entwickelt sich durch Verwendung. Nicht nur Polizei, Journalist*innen und Werbung prägen mit ihrem Framing, wie wir denken – jede und jeder von uns kann bei sich selbst und bei anderen das Bewusstsein für irreführende Narrative wecken und durch den eigenen Sprachgebrauch dazu beitragen, Frames zu verschieben.

Das betrifft nicht nur Unfälle, sondern auch die Verkehrspolitik. Würden wir „nicht von Parkplätzen reden, sondern von Autolagerflächen“, verliefen die Diskussionen über die Nutzung dieser Flächen anders, sagt Dirk Schneidemesser in der taz.

Wer das zu radikal findet, kann zum Beispiel die Formulierung „schwache Verkehrsteilnehmer*innen“ hinterfragen – Menschen, die am Rad oder zu Fuß unterwegs sind, mögen „ungeschützt“ sein, aber „schwach“ sind sie nicht. Und wenn der Autoverkehr zugunsten des Rad- und Fußverkehrs von einer Straße verbannt wird, ob für eine Veranstaltung oder dauerhaft, können wir statt von einer „gesperrten“ Straße von einer „geöffneten“ sprechen – gesperrt ist sie ja nur für Autos, aus der Perspektive von Menschen hingegen, die gerade nicht im Auto sitzen, wurde sie geöffnet.

Durch dieses Reframing, also das Schaffen von neuen, positiv besetzten Bedeutungszusammenhängen und das Unterstützen neuer Werthaltungen, können wir ein neues, menschen- und klimafreundlicheres Verständnis von Mobilität und Infrastruktur schaffen.

Die Verantwortung richtig verorten

Bei Unfällen wiederum können wir durch präzise Sprache die Verantwortung dort verorten, wo sie hingehört.

Nicht der Radfahrer ist in die Autotür gekracht und hat sich verletzt, sondern ein Autofahrer hat seine Türe unaufmerksam geöffnet und so den Radfahrer verletzt.

Die beiden Jugendlichen sind nicht „auf dem Gehsteig von einem Pkw erfasst worden“, der „ins Schleudern geriet“ und „auf den Gehsteig auffuhr“ – sondern ein Autofahrer hat die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren, ist auf den Gehsteig gefahren und hat die Jugendlichen schwer verletzt.

Und es „kam“ nicht ohne menschliches Zutun auf einem Schutzweg „zum Zusammenstoß mit einem Mädchen, das sich dabei schwer verletzte“ – sondern ein Mädchen wurde von einer Autofahrerin schwer verletzt, die zu unaufmerksam oder zu schnell unterwegs war, um vor einem Schutzweg (!) rechtzeitig anhalten zu können.

Fazit: Natürlich werden die verletzten Radfahrer*innen und Fußgänger*innen durch eine korrekte Sprache nicht schneller gesund – aber zumindest wird ihnen nicht auch noch indirekt die Schuld am Unfall zugeschoben. Diejenigen, die davon lesen oder hören, bekommen ein realistischeres Bild der Ereignisse. Und die zuständigen Entscheidungsträger*innen kommen vielleicht zu sinnvolleren Ergebnissen, wenn es darum geht, wie sie die Straßen für alle sicherer machen können.

 

Ines Ingerle ist Kommunikationstrainerin und leitet die Öffentlichkeitsarbeit der Radlobby.

 


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