Ein Autofahrer fährt einen Radfahrer tot und hält nach dem Zusammenprall nicht einmal an. Die Strafe scheint erstaunlich mild. Der Fall zeigt einmal mehr, dass Rasen in Österreich immer noch als Kavaliersdelikt gilt.

Text: Ruth Eisenreich, Infografik: Anna Hazod.

Michael M. wurde nur 34 Jahre alt. Am Abend des 9. Mai 2019 fährt ihn auf einer Landstraße in Blindenmarkt im Bezirk Melk ein damals 26-jähriger Autolenker an: M. stirbt im Straßengraben. Am nächsten Morgen, so berichtet damals der ORF Niederösterreich, entdeckt ein Landwirt in der Wiese vor seinem Stall einen abgetrennten Unterschenkel. Er alarmiert die Polizei, die 80 Meter entfernt den toten Michael M. und dessen Rennrad findet.

Der Prozess am Landesgericht St. Pölten ergibt: Der Unfalllenker war übermüdet und bei Dunkelheit und regennasser Fahrbahn zu schnell unterwegs gewesen. Nach dem Zusammenprall hält er nicht an, er leistet keine erste Hilfe und ruft auch nicht die Rettung. Er fährt einfach weiter; am nächsten Morgen, nach einem Medienbericht über den toten Radfahrer, stellt er sich der Polizei.

„Ich habe nur einen Tuscher gehört“, zitierte der Kurier die Rechtfertigung des Lenkers in einem Prozessbericht: „Da dachte ich, dass ich ein Reh erwischt habe.“

Unfalllenker war vorbestraft

Infografik Tote im Strassenverkehr 2019

Tote im Straßenverkehr 2019. Infografik: Anna Hazod

Das – inzwischen rechtskräftige – Urteil, das ein Einzelrichter am 18. September dieses Jahres spricht, löst in der Radcommunity in den sozialen Medien verstörte Reaktionen aus: vier Monate bedingte Haft und eine Geldstrafe von 3.220 Euro wegen fahrlässiger Tötung. Das erscheint vielen als lächerlich milde Strafe dafür, dass immerhin ein Mensch getötet wurde. Wo doch der Strafrahmen für fahrlässige Tötung immerhin ein Jahr beträgt und der Unfalllenker einschlägig vorbestraft war. Im Jahr 2015 war er verurteilt worden, weil er – so erklärt Andrea Humer, die Sprecherin des Landesgerichts – bei einem Verkehrsunfall seinen Beifahrer gefährdet hatte.

Gerichtssprecherin Humer weist die Einschätzung zurück, dass das Urteil zu milde sei. Die Strafe sei „durchaus streng“, findet sie: Insgesamt betrage sie fünfeinhalb Monate, nur dass eben ein Teil davon in eine Geldstrafe umgewandelt und der andere Teil zur Bewährung ausgesetzt worden sei. „Bei einem unbescholtenen Ersttäter wäre die Strafe eher im unteren Drittel des Strafrahmens gelegen“, sagt sie. Die Vorstrafe sei dem Mann natürlich erschwerend ausgelegt worden; mildernd gewertet worden seien jedoch sein Geständnis sowie die Tatsache, dass die Angehörigen bereits Schadensersatz erhalten hatten – vermutlich von der Versicherung des Unfalllenkers.

Rasen als Kavaliersdelikt

Und dass der Mann nicht einmal anhielt, nachdem er Michael M. gerammt hatte? Die Fahrerflucht habe man ihm nicht nachweisen können, sagt Humer: „Er konnte glaubhaft machen, dass er nicht gemerkt hat, dass er einen Menschen angefahren hat – und am nächsten Morgen hat er sich immerhin gestellt.“

Eine grobe Fahrlässigkeit, für die bis zu zwei Jahre Haft verhängt werden können, sah der Richter nicht gegeben – grob fahrlässig verhält sich, so heißt es im Strafgesetzbuch, „wer ungewöhnlich und auffallend sorgfaltswidrig handelt“, so dass der Eintritt des strafbaren Sachverhaltes „als geradezu wahrscheinlich vorhersehbar“ ist.

Der Verteidiger hatte der Austria Presse Agentur zufolge vor Gericht argumentiert, sein Mandant sei zwar zu schnell unterwegs gewesen, das sei aber „ein Massenphänomen“ im österreichischen Straßenverkehr.

Freilandstraßen als Todesfallen

Genau dieses flächendeckende Schnellfahren sieht Roland Romano, Sprecher der Radlobby Österreich, als das Problem – besonders auf Freilandstraßen, die „wahre Todesfallen“ seien: „Drei Viertel aller Verkehrstoten in Österreich sterben dort, der Großteil davon auf klassischen Tempo-100-Landstraßen.“ In kaum einem Land in Europa seien die Messtoleranzen so groß und die Strafen so niedrig wie in Österreich. „Mit dem Auto 20 km/h zu schnell zu fahren, kostet gleich viel wie ein einziger fehlender Reflektor an einem Rad“, sagt Romano. „Das ist ein grobes Missverhältnis. Die Schweiz ist da strikter und hat bei gleicher Einwohnerzahl nur halb so viele Verkehrstote pro Jahr.“

Es sei ein Problem der autodominierten Gesellschaft, dass Fehlverhalten am Steuer eines Kraftfahrzeugs oft sehr mild bestraft werde, sagt Romano. Man kann sich etwa an den Fall vom August 2019 erinnert fühlen, bei dem ein 60-jähriger Autofahrer auf einer Landesstraße ebenfalls in Niederösterreich von hinten einen Fahrradanhänger rammte. Die Radfahrerin wurde dabei schwer verletzt, ihre zwei Töchter im Alter von vier und zwei Jahren, die im Anhänger saßen, starben. Das Landesgericht Korneuburg verurteilte den Unfalllenker zu 28.000 Euro Geldstrafe, 7.000 davon wurden ihm bedingt nachgelassen – obwohl er sich Medienberichten zufolge vor Gericht völlig uneinsichtig zeigte und sich in der Opferrolle sah. Nach einer Berufung der Staatsanwaltschaft hob das Oberlandesgericht Wien die Strafe im Juli 2020 auf 28.000 Euro unbedingt an, das Urteil ist rechtskräftig, sagt Gerichtssprecher Wolfgang Schuster-Kramer.

 

Zu hohes Tempo bei Dunkelheit

Dass auch dieser Zusammenstoß bei Dunkelheit geschah, sei kein Zufall, sagt Romano: „Auffällig viele Freiland- Zusammenstöße passieren bei Dämmerung oder bei Nacht. Das liegt daran, dass die heutigen Abblendlichter für Sichtweiten von 60 bis 80 km/h gebaut sind, damit der Gegenverkehr nicht geblendet wird.“ Wer bei Dunkelheit schneller fahre, breche bereits die Straßenverkehrsordnung – sie besagt, dass die Fahrgeschwindigkeit den Verkehrsund Sichtverhältnissen anzupassen ist – und gefährde damit Menschenleben. Auf Freilandstraßen brauche es eine Infrastruktur, die Radfahrende und Zufußgehende schützt, sagt Romano: „Wir müssen auf Freilandstraßen getrennte Radwege errichten, am besten ein landesweites Netz, wie es in Dänemark und den Niederlanden längst Realität ist.“ Dort, wo keine getrennten Radwege vorhanden sind, brauche es wirksamen Schutz durch maximal Tempo-70.

 


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