Was macht Radfahren in den Niederlanden so angenehm? Matthias Bernold, Matthias Pintner und Andrzej Felczak begaben sich auf Recherche-Reise und kamen mit fünf Antworten zurück.

Es ist kaum vorstellbar, aber bis in die 1970er-Jahre gab es in den Niederlanden keine Anzeichen dafür, dass sich das Land dereinst in ein Fahrrad-Paradies verwandeln würde. Im Gegenteil: Die Entwicklung verlief parallel zu der in anderen Städten. Mit steigendem Wohlstand verdrängte das Automobil zusehends das bis dahin äußerst beliebte Fahrrad. Stadtplanung und Politik trieben den Umbau des öffentlichen Raumes voran. Das Ziel: Die Städte autogerechter zu machen. Mit den bekannten Auswirkungen auf die Lebensqualität. Ganze Viertel wurden dem Zeitgeist der 1950er- und 1960er-Jahre entsprechend betoniert, um Raum für Parkplätze und Fahrspuren zu schaffen.

In der Folge stieg der Autoverkehr stetig und damit auch die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle. Im Spitzenjahr 1971 wurden – berichtete der britische „Guardian“ – in den Niederlanden 3.300 Menschen bei Verkehrsunfällen getötet. Darunter 400 Kinder. Diese schauerliche Statistik rief Bürgerbewegungen auf den Plan: Eltern organisierten sich in der NGO „Stop de Kindermoord“ – niederländisch für Stopp dem Kindermord. Radfahrende gründeten den Fietsersbond, die Vereinigung der Radfahrenden: Fahrrad-Demos überzogen das Land, Unfallstellen wurden besetzt und Straßenzüge gesperrt, um Kindern das sichere Spielen auf den Straßen wieder zu ermöglichen.

Unter dem Eindruck der Ölkrise und begünstigt von mildem Klima, flacher Topographie und einer traditionell starken Fahrradkultur stieß man bei den Behörden auf offene Ohren.
Viele der – damals revolutionären – Ideen wurden in die Verkehrsplanung übernommen. Schritt für Schritt begann die holländische Politik die Vorteile des Radfahrens zu entdecken. Bald änderte sich die Verkehrspolitik insgesamt. Schon in den 1980er-Jahren gestalteten Städte ihre Straßen wieder fahrradfreundlicher. Radrouten und später Radwegnetzwerke durchzogen Gemeinden.

Dass heute die Holländerinnen und Holländer mehr als ein Viertel aller Wege mit dem Rad zurücklegen – und zwar sowohl im städtischen wie im ländlichen Raum –, ist kein Zufall, sondern das Resultat einer über Jahrzehnte geübten und immer weiter entwickelten Verkehrspolitik, die konsequent auf das Fahrrad setzt. Hier die Schlüsselfaktoren niederländischen Verkehrsdesigns:

1. Priorität für Radverkehr

Um die Verkehrssicherheit zu erhöhen, werden Hauptradrouten und Langstrecken gegenüber dem Kfz-Verkehr konsequent bevorrangt. Wichtig dabei ist die Gestaltung von Kreuzungen, den – üblicherweise – unfallträchtigsten Stellen. Zum Einsatz gelangen sogenannte Berliner Kissen (kleine kreisförmige Temposchwellen, die mit Pkw überfahren werden und von Bussen und Fahrrädern umfahren werden können), Fahrbahnanhebungen, deutliche Bodenmarkierungen und rote Einfärbungen.

Auch anhand der Platzverteilung ist die Priorisierung des Radverkehrs deutlich zu erkennen. In Amsterdam beträgt zum Beispiel die Breite des Zweirichtungsradweges in der Prins Hendrikkade beim Hauptbahnhof 4,5 Meter – was ein komfortables und gleichzeitiges Überholen in beiden Richtungen erlaubt. Dem Kfz-Verkehr stehen im selben Abschnitt sparsame drei Fahrstreifen auf einer Gesamtbreite von elf Metern zur Verfügung.

2. Bauliche Trennung

Herzstück der niederländischen Radinfrastruktur sind baulich getrennte Radwege entlang von stark mit Kfz befahrenen Straßen. Die Radwege sind als Ein- oder Zweirichtungsradwege in einer Breite angelegt, die Nebeneinanderfahren (ein Standard in den Niederlanden!) und sicheres Überholen ermöglichen.
Ein Markenzeichen niederländischer Radwege ist die rote Farbe (oft roter Asphalt), die den Radweg für alle Verkehrsteilnehmenden sofort erkennbar macht. Bei Zweirichtungsradwegen weist eine Mittelmarkierung darauf hin, dass mit Radverkehr aus beiden Richtungen gerechnet werden muss.

Radwege sind elementarer Bestandteil von sogenannten monofunktionalen Straßen. Diese haben nur eine Funktion: den fließenden Verkehr abzuwickeln. Um den oft knappen Platz effektiv zu nutzen und die Kapazitäten für den Personentransport voll auszuschöpfen, sind entlang dieser Straßen Radwege vorgesehen, aber keine Kfz-Parkplätze.

Auch wesentlich ist, dass die Radwege nicht vor Kreuzungen enden, sondern miteinander verbunden sind und somit ein vollständiges Radwegenetz ergeben. Erst das ermöglicht ein sicheres und attraktives Angebot, das von allen Nutzendengruppen – vom Schulkind bis zur Oma – angenommen wird.

3. Kreuzungsmanagement

Auch in den Niederlanden gefährden rechtsabbiegende Kfz-Lenkende Radfahrende auf straßenbegleitenden Radwegen. Zur Erhöhung der Sicherheit sind deshalb auf manchen Kreuzungen die Verkehrslichtanlagen mit einem zusätzlichen Lichtsignal ausgerüstet, das so lange das Piktogramm „Achtung auf Radfahrende beim Rechtsabbiegen“ blinkend anzeigt wie der geradeaus fahrende Radverkehr Grün hat. Laut unseren Beobachtungen wird der Zusatz-Lichtsignalgeber bei Kreuzungen mit einer hohen Kfz-Rechtsabbiegefrequenz eingesetzt.

Seit dem Jahr 1990 können niederländische Gemeinden mittels Zusatzschild Radfahrenden das Rechtsabbiegen bei Rot erlauben – wovon sie auch häufig Gebrauch machen.

4. Radschnellwege im Fahrrad-Paradies

Wer von Amsterdam in die 20 Kilometer entfernte, küstennahe Stadt Haarlem radeln möchte, findet sich auf einem Radschnellweg, einer Snelfietsroute, wieder. Diese speziell für den Pendlerverkehr geschaffenen Radverbindungen ermöglichen ein flottes Vorankommen, kaum unterbrochen von roten Ampeln und getrennt vom Kfz-Verkehr (mit Ausnahme leider von Mopeds, denen die Benutzung der Snelfietsrouten ausdrücklich erlaubt ist).

Auch das kennzeichnet ein Fahrrad-Paradies: Deppensicheres Orientierungssystem

Bereits seit den 1980er-Jahren experimentiert man in den Niederlanden mit Radschnellwegen. Vor allem im Entfernungsbereich bis 15 Kilometer sollen diese Verbindungen Pendlerinnen und Pendlern ermöglichen, ihr Ziel schnell und sicher zu erreichen. Seit 2006 gibt es in den Niederlanden das Projekt „Fiets fi levrij“ zur landesweiten Planung und Errichtung von Radschnellwegen, das Teil der nationalen Mobilitätsstrategie ist. Ziel ist die Schaffung eines landesweiten Radschnellwegenetzes mit einheitlichen Standards, das in die kommunalen, regionalen und touristischen Radverkehrsnetze integriert ist.

Nicht zuletzt in Verbindung mit E-Bikes und Speed-Pedelecs wird den Fahrrad-Highways großes Potenzial zugeschrieben, den Umstieg vom Auto auf das Fahrrad zu erleichtern. Ein wichtiger regionaler Radschnellweg ist der 17 Kilometer lange „RijnWaalpad“, der die beiden Städte Arnhem und Nijmegen verbindet. Insgesamt sind ca. 30 Radschnellwege in den Niederlanden geplant, viele werden aktuell gebaut oder ausgebaut.

5. Orientierungssystem

Was bringen Super Cycle Highways, Kreuzungsdesign und radfreundlichste Ampelschaltungen, wenn man dann den Weg zum gewünschten Ziel nicht findet?

Die niederländischen Verkehrsplanenden haben sich mit genau dieser Frage beschäftigt und ein einheitliches Orientierungssystem geschaffen. Zum einen erfolgt die Beschilderung für den Radverkehr einheitlich auf rechteckigen Tafeln mit roter Schrift auf weißem Hintergrund, die sich gut von den Tafeln für den motorisierten Verkehr unterscheiden.

Zum anderen folgen die Richtungsangaben einer einheitlichen Systematik: Üblicherweise werden nicht mehr als zwei Ziele auf einer Hinweistafel für eine Fahrtrichtung angegeben. Die Tafeln zeigen das nächste Ziel entlang der Route (z.B. ein kleinerer Ort) und wichtige überregionale Ziele.

Elementarer Bestandteil des Orientierungssystems ist das Knotenpunktsystem (Knooppuntnetwerk). Dabei wird jedem wichtigen Knotenpunkt im (regionalen) Radverkehrsnetz eine Nummer zugeordnet. Möchte man vom Ort A in den Ort B fahren, müssen Radfahrende sich die auf der Übersichtstafel angezeigten Knotenpunktnummern merken und diesen schließlich folgen. An Abzweigungen sind Tafeln mit Richtungspfeilen zu den nächstgelegenen Knotenpunkten angebracht.

Unserer Erfahrung nach leitet das Knotenpunktsystem Reisende zuverlässig von einem Dorf zum Nächsten. Auch spontane Routenanpassungen sind kein Problem.

 

Drei Recherche-Reisen

Matthias Pintner fuhr zusammen mit zwei Freunden im Mai 2016 eine Variante der touristischen Radroute „Rund um das Ijsselmeer“.

Matthias Bernold radelte im Jahr 2015 zusammen mit seiner damaligen Freundin und jetzigen Frau von Arnheim nach Amsterdam, Haarlem, dann nordwärts und über den Abschlussdeich (Afsluitdijk) nach Groningen.

Andrzej Felczak besuchte in Juni mit einigen Radlobby-KollegInnen den Fahrradkongress Velo-City 2017 in Nijmegen/Arnhem. Auch ein Besuch in Amsterdam durfte nicht fehlen.